Es ist fast geschafft – nur noch 18 km bin ich von meinem Ziel Wuppertal-Ronsdorf entfernt. Am Morgen bin ich bereits wieder um kurz nach 6.00 Uhr wach. Meine Lust, aufzustehen, wandert gegen null. Ich habe den Eindruck, dass sich jeder meiner Knochen persönlich bei mir beschweren will. Langsam wälze ich mich aus meinem Bett und schleiche unter die Dusche. Aus Versehen haben ich heute morgen den Temperaturregler vom Wasserhahn nicht nur auf “kalt”, sondern auf “eiskalt” gestellt – und bin von einem auf den anderen Moment hellwach…
Ein letztes Mal ziehe ich mir auf diesem Lauf nach dem Duschen ein frisches Laufshirt an – eines hätte ich noch in Reserve im Rucksack, für den Fall, dass ich etwas länger für die Tour gebraucht hätte:
Beim Frühstück komme ich mit der Hotelmitarbeiterin aus der Küche ins Gespräch, die mir mein Frühstück bringt. Sie spricht mich auf das Shirt an und möchte wissen, was es mit meiner Aktion und dem Lauf auf sich hat. Gern erkläre ich ihr die Hintergründe – dass Sportprothesen für Beinamputierte immer noch nicht im Hilfsmittelkatalog der Gesetzlichen Krankenkassen stehen und Sigrun aus diesem Grund – obwohl sie ihre sportliche Leistungsfähigkeit in Wettbewerben unter Beweis stellt – die Kostenübernahme für eine Sportprothese verweigert wird.
Beim Frühstück lasse ich mir heute Zeit – ich rechne für die verbleibenden 18 km in etwa dreieinhalb Stunden ein. Wenn ich gegen 15.00 Uhr in Ronsdorf sein will, dürfte es reichen, gegen 10.30 Uhr zu starten. Gemütlich genieße ich mein Rührei, die Brötchen mit Wurst und Käse, dabei lese ich auf meinem Tablet im E‑Paper meiner Heimatzeitung die neuesten Nachrichten.
Nach dem Frühstück werden im Zimmer schnell noch die letzten Sachen im Rucksack verstaut, ein letztes Mal kontrolliert, ob ich auch wirklich alles eingepackt habe, dann geht es zur Rezeption zum Auschecken. Um 10.00 Uhr – früher als eigentlich gedacht – hat mich die Straße wieder – ein letztes Mal auf diesem Lauf.
Bereits zu dieser Zeit habe ich das Gefühl, dass der Teufel heute persönlich am Hitzeregler sitzt. Wieder einmal ziehen sich die Straßenzüge wie Kaugummi. Mittlerweile habe ich auch begriffen, warum diese Region das Bergische Land heißt: Jedem Stück Gefälle folgt eine Steigung – und die ist viel anstrengender, als die Steigung zuvor. Ich weiß nicht, ob es wirklich meine nachlassenden Kräfte sind oder ob die Strecke mir wirklich so lang vorkommt – aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich auf der Stelle trete.
Auf der Rosendahler Straße, kurz vor dem Ortsende von Gevelsberg, spricht mich ein Mann in meinem Alter an. Er möchte wissen, was es mit meiner Aktion auf sich hat. Ich gebe ihm einen Flyer und umreiße in großen Zügen meine beiden Anliegen. Im Gespräch erklärt er, dass er in der Krankenpflege arbeite und diese Probleme sehr gut kenne. Für ihn ist auch unverständlich, warum die Krankenkasse Sigrun nicht als Werbetestimonial engagiert und ihr dafür die Sportprothese finanziert hat, schließlich wäre sie mit ihren Erfolgen das beste Aushängeschild, dass sich ein Unternehmen wie eine Krankenkasse wünschen könne.
Nach dem kurzen Gespräch führt mich meine Strecke weiter über offenes Gelände. Die Sonne brennt von oben und macht mir jeden Schritt schwer. Südlich vom Autobahnkreuz Wuppertal Nord kreuze ich die Autobahn A1 und steuere nun auf die Stadt Wuppertal zu. Durch Wuppertal Oberbarmen laufe ich den Schwarzbach bis zur Bundesstraße B7, die ich hinter dem Bahnhof Oberbarmen verlasse, wortwörtlich über die Wupper gehe und mich auf den Aufstieg im Stadtteil Heckinghausen vorbereite.
Meter um Meter kämpfe ich mich förmlich die steilen Anstiege empor – oft genug bin ich diese Straßen schon mit dem Auto gefahren, um zu wissen, wie steil es bergauf, aber auch wieder bergab geht. Durch das Murmelbachtal erklimme ich Schritt für Schritt wieder die Anhöhe bis zur Konradswüste, wo ich einen Moment innehalte und den Blick über die Täler genieße.
Allmählich geht es auf 13.00 Uhr zu. Die Sonne brennt immer erbarmungsloser. Also sehe ich zu, dass ich meinen Weg fortsetze. Bis nach Ronsdorf dürften es noch ungefähr 5 Kilometer sein, also etwas mehr als eine Stunde zu gehen. Vor mir liegt das Naherholungsgebiet Scharpenacken – und endlich ein wenig Schatten …
Ich genieße die schattigen und kühleren Wege durch dieses Naherholungsgebiet. An einem kleinen, fast ausgetrockneten Bächlein mache ich schließlich eine Pause. Ich setze mich auf eine Leitplanke und lasse aus einer meiner Trinkflaschen Mineralwasser meine staubige Kehle herunter rinnen. Ein Traktor mit einem Heuanhänger fährt an mir vorbei, ich schaue ihm nach und nehme einen weiteren Schluck aus meiner Trinkflasche. Schließlich entschließe ich mich, weiter zu gehen.
Nach dieser Pause genieße ich die Ruhe im Naherholungsgebiet Scharpenacken. Hin und wieder zwitschert ein Vogel, ein Lüftchen rauscht durch die Blätter und verschafft mir ein wenig Abkühlung. Mit dem Überqueren der Parkstraße verlasse das Naherholungsgebiet Scharpenacken und komme in die Ronsdorfer Anlagen, ein kleines Wäldchen, das seit 1869 im Besitz des Ronsdorfer Verschönerungsvereins ist und durch Spenden und Beiträge von rund 700 Mitgliedern gepflegt wird.
Ein letzter Abstieg beginnt – an einem kleinen Spielplatz vorbei, der in der Hitze verlassen da liegt, vorbei durch farbenfrohe Blumenanpflanzungen, die mich in den Ortsteil Ronsdorf führen.
Über die Straßenzüge “In der Krim” und “Ascheweg” erreiche ich schließlich die Lüttringhauser Straße, von der mein Weg über die Staasstraße zum Bandwirkerplatz führt.
Die Straßenuhr unterhalb des Bandwirkerdenkmals zeigt 14.35 Uhr, als ich auf das Bandwirkerpärchen zusteuere.
Ich bin glücklich und erleichtert zugleich, dass ich dieses Ziel erreicht habe – gesund, ohne große Blessuren und Verluste, aber müde und erschöpft.
Und zu meiner großen Freude sehe ich, dass ich erwartet werde …
Am Bandwirkerdenkmal wartet Sigrun auf mich und begrüßt mich nach 300 km Strecke. Sie konnte mich wegen eines nicht aufschiebbaren Termins am Vormittag nicht auf den letzten Kilometern in Wuppertal begleiten, hat es sich aber nicht nehmen lassen, mich am Bandwirkerdenkmal im Empfang zu nehmen und mir zu dieser Leistung zu gratulieren.
Und natürlich gibt´s auch zum Schluß noch einmal für alle Interessierten das Höhenprofil meiner heutigen Etappe: